Am Anfang hatten die Menschen von der Gestalt der Erde nur eine
nebelhafte Vorstellung. Wo war die Welt zu Ende ?
Die Seestraße ist der älteste Verkehrsweg der Menschheit,
auf ihr erkundete sie die Welt. Fast immer waren es einzelne
Männer, die den Fortschritt der Wissenschaften nutzten und die
Kenntnis von der Beschaffenheit der Welt erweiterten. Hinter jeder
Grenze, die überwunden wurde, tat sich eine neue auf.
Fünftausend Jahre brauchte die Menschheit, um die ganze Erde mit dem
Schiff zu entdecken. Anderthalb Jahrtausende vor Christus gingen im Auftrag
der ägyptischen Königin Hatschepsut fünf Galeeren nach dem
sagenhaften Goldland Punt in Ostafrika in See. 600 Jahre v. Chr.
umsegelten die Phönizier den afrikanischen Kontinent. Im 6. Jahrhundert
fuhr der irische Mönch Brendan mit grosser Wahrscheinlichkeit nach
Nordamerika und zurück, das Land, wo um das Jahr 1000 die Wikinger
siedelten und das 1492 angeblich von Kolumbus "entdeckt" wurde.
1519 gelang Magellan die erste Weltumsegelung.
Lange fanden die Seeleute ihren Weg nur dank dem Polarstern. Wollte man
die geografische Breite nicht verlassen, musste man den Stern einfach genau
querab haben. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts kam der Jakobsstab
auf. Der Anfang einer Beschreibung des Instruments von 1531 lautet:
"Man nehme einen glatten Stab AB und teile ihn von A in gleiche Teile,
je mehr, desto besser. Befestige an ihm unterm rechten Winkel verschiebbar
einen Querstab CD, dessen beide Arme gleich lang sein müssen
. . . "
Doch erst 1655 erschien das erste
Handbuch der Navigation in deutscher Sprache. Es trug den
Titel »Wechwyser tho de Kunst der Seevaert«, sein Verfasser
war Hans Tangermann. Alles, was ein gut ausgebildeter Seemann zur Kurs- und
Ortsbestimmung wissen mußte, war darin enthalten: Koppelrechnung,
Errechnung der geographischen Breite, Mißweisungsbestimmung,
Gezeitenberechnung und Argumente zur Überlegenheit der Mercator-Projektion
gegenüber früheren Seekarten.
Es überrascht zunächst, daß das erste Navigationslehrbuch
in Deutschland erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts erscheinen konnte,
gehört doch die Seefahrt aus deutschen Häfen mit zu den
traditionsreichsten der Welt. Die Hanse war lange Zeit hindurch die
mächtigste Beherrscherin der nördlichen Meere. Deutsche
Steuerleute segelten seit alters her nach Skandinavien, zum Walfang ins
Nordmeer, trieben Handel mit den Häfen in Irland, aber auch in Polen
und Rußland, fuhren nach England, Frankreich, Portugal und Spanien.
Ihre Hauptfahrgebiete waren also die Ost- und Nordsee, der Kanal, die
Biskaya und die atlantischen Küsten der iberischen Halbinsel. All
diese Routen waren ihnen seit Jahrhunderten vertraut und wurden von
Generation zu Generation überliefert. Die Navigation bestand aus
Erfahrung !
Anders war es mit der Navigation der Entdecker: Für Routen über
fremde Meere und zu neuen Erdteilen konnte man auf keine Erfahrung
zurückgreifen und war gezwungen, neue Methoden der Kursfindung zu
entwickeln. So gibt es seit Anfang des 15. Jahrhunderts schriftliche
Aufzeichnungen über navigatorische Erkenntnisse in portugiesischer
und spanischer Sprache. Als dann aber Schiffe aus deutschen,
holländischen und britischen Häfen am zunehmenden
Handelsverkehr auf den Weltmeeren teilnahmen, entstand auch hier das
Bedürfnis nach materialisierter Information über fortgeschrittene
Navigationstechniken. Man kann aber davon ausgehen, daß den
deutschen Seefahrern schon vor 1655 schriftliche Aufzeichnungen über
neuere Navigationsmethoden zugänglich waren.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Mit den Holländern,
die eine offensive Seefahrtspolitik betrieben, war man nicht nur
benachbart, gemeinsam mit ihnen gehörten die norddeutschen Seefahrer
zur niederländisch-niederdeutschen Sprachgruppe. Seefahrt zwischen
den Ländern und Kontinenten - da Handel treibend und Wohlstand
bringend - war seit jeher international. Auch nautisches Wissen wurde
weitergegeben. Zwar haben die Urheber früher Entdeckungsreisen
mehrfach versucht, das gerade erworbene Wissen für sich zu behalten
und zu monopolisieren: Es wurden Verbote erlassen, Angaben über
die soeben entdeckten Länder und über die Wege dorthin zu
verbreiten. Doch für die Seeleute stand schon sehr früh die
Gemeinsamkeit in der Auseinandersetzung mit Meer und Wetter im Vordergrund,
so daß derlei Verbote meist kurzlebig waren. In den Häfen traf
man sich in den traditionellen Seemannsschenken oder besuchte sich
gegenseitig an Bord der Schiffe. Das eigene Wissen wurde dort mitgeteilt,
fremdes übernommen.
Die Ursprünge aller nautischen Mathematik liegen weit in der
Antike. Plato lehrte, daß Geometrie die höchste Übung
sei, welcher der Mensch seine Mußestunden widmen könne.
Trotzdem war es noch lange nicht möglich, die von Francis Drake
1580 erstmals vollständig umsegelte Welt zu messen. Dabei hat
schon zweihundert Jahre vor Christus die Euklidsche Lehre einen
Eratosthenes die Lage versetzt, ihren Umfang zu berechnen.
Und doch ebnete das Wissen, das aus Euklids Lehre erwuchs, den Weg für
große Schiffahrten. Was bedeuten schon 1800 Jahre, die zwischen ihm und
Kolumbus liegen? Heute fliegen Superjets von Kontinent zu Kontinent. Auch
ihre Navigation wurzelt in den frühen Erkenntnissen der Schiffsführer
seit dem Anfang der Neuzeit. Die großen Entdecker benötigten
Monate und Jahre für ihre historischen Fahrt ins Ungewisse.
Ein Flug von Europa nach Japan dauert - auf der Polroute - nur ein paar
Stunden. Schiffe und Flugzeuge sind mit Steuercomputern bestückt,
doch ihre Programme sind nichts anderes als materielose, energetische
Navigationsmathematik, wie sie vom 15. bis 17. Jahrhundert entwickelt
wurde. Und keine Hochseeregatta, kein Jachttörn kann ohne Kenntnis
des gesamten nautischen Handwerks stattfinden.
Die seefahrende Menschheit mußte einen langen Weg zurücklegen,
um sich das Wissen über die Kunst der Seefahrt anzueignen. Die ersten
bekannten Schiffsreisen fanden zirka 3000 Jahre v. Chr. in Ägypten
statt; erst 5000 Jahre später - im 19. und 20. Jahrhundert - hatten
Fridtjof Nansen, Roald Amundsen und James Clark Ross die Pole erforscht.
Dazwischen aber, wie man noch sehen wird, war es ein stetiges, Jahrtausende
währendes Fortschreiten. Und immer machten sich die kühnen
Männer das aktuellste Wissen ihrer Zeit zunutze; ihre berühmtesten
Vertreter waren daher fast immer auch kluge und belesene Zeitgenossen, die
mit ihren Taten bahnbrechend für viele Nachahmer wirkten. Immer wieder
drangen sie an das vermeintliche Ende der Welt vor, um zu erleben, daß
sich dahinter eine andere Unendlichkeit mit wiederum unerforschten Meeren
und fernen, geheimnisvoll-lockenden Küsten auftat. Aber durch Mut und
Tatkraft alleine kam die Seefahrt nicht an ihr Ziel, die Grenzen der Erde.
Neue Erkenntnisse der Wissenschaften - vorab der Mathematik, der Physik
und der Astronomie - erweiterten das theoretische Wissen, welches auf
seine praktische Umsetzung wartete und mit sich stets verbessernden
Schiffsbautechniken, mit fortschreitender Kenntnis der Erdgeometrie
und fehlerfreieren Sternentabellen den Seefahrern immer vollkommenere
Hilfsmittel an die Hand gaben.
Natürlich gab es auch markante Rückschläge, welche die
Wissenschaft durch Kriegseinwirkung, religiösen Fanatismus oder Dummheit
der Herrschenden erleiden mußte. Manch abgesichertes Wissen geriet
dadurch in Vergessenheit, um oft genug erst Jahrhunderte später
wiederentdeckt zu werden. |